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Das Märchen von der kleinen goldenen Blume

 

Es war einmal eine kleine goldene Blume, die lebte in einem Meer von wilden silbernen Sträuchern. Sie kam sich einsam und verlassen vor, denn die Sträucher mieden sie und sprachen nicht mit ihr. Die kleine goldene Blume blieb alleine.
Ihre zarten Blätter klirrten im Winde, und wenn die Sonne schien, blendete sie ihre Umgebung. Die silbernen Sträucher hielten sie für verwunschen und fürchteten sie.
Die goldene Blume war sehr, sehr traurig über diesen Zustand, und nur manchmal, wenn der Mond in klaren, hellen Nächten auf sie herunterschaute, sagte sie sich: "Ja, vielleicht bin ich ja ein kleines Stückchen vom großen goldenen Mond, bin heruntergefallen, um hier zu leben... doch - warum nur?!"
So zagte und zauderte sie an sich und ihrem Schicksal, als eines Tages blaue Schmetterlinge herbeiflogen. "Sag, kleine goldene Blume", sprach einer von ihnen, "kannst du uns sagen, was Freude ist? Wir zogen aus, um sie zu suchen, zogen aus, um herauszufinden, was das wohl ist." Die kleine goldene Blume überlegte lange. Je länger sie nachdachte, umso trauriger schien sie zu werden; ihr Köpfchen senkte sich hinab zu ihren güldenen Blättern, und mit feiner, zerbrechlicher Stimme antwortete sie leise: "Freude? Nein, was Freude ist, weiß ich nicht. Doch solltet ihr sie finden, so müsst ihr zu mir zurückkommen, um mir davon zu berichten."
Die blauen Schmetterlinge versprachen dies und machten sich wieder auf den Weg. Sie flogen Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr, und die kleine, goldene Blume wartete sehnsüchtig auf ihre Rückkehr. Doch so lange sie auch wartete, die Schmetterlinge schienen nicht mehr zu ihr zurückkommen zu wollen, und die kleine Blume wurde immer älter und immer trauriger. Mit jedem Jahr verlor sie mehr und mehr die Hoffnung, die Schmetterlinge wiederzusehen und zu erfahren, was Freude sei, und eines Tages hatte sie gar keine Hoffnung mehr.
Nachdem noch einmal viele einsame Jahre vergangen waren, erlebte die kleine Blume einen seltsamen Sommertag. Sie hatte mit einem Mal den Eindruck, als ob die Sonne wärmer und heller als je zuvor in ihrem Leben auf sie herabschien. Verwundert hob sie ihr Köpfchen und blinzelte ins Sonnenlicht. Sie hatte sich an diesem Morgen besonders alt und müde gefühlt, doch diese Sonnenstrahlen schienen sie zärtlich trösten und streicheln zu wollen. Da hörte sie, wie die Sonne zu ihr sprach: "Kleine, goldene Blume, du brauchst nicht länger traurig zu sein! Bald darfst du nach Hause kommen, und du wirst nie mehr allein und unglücklich sein. Dann kannst du mit deinen Brüdern und Schwestern spielen und musst dir keine Sorgen mehr machen."
Die erstaunte kleine Blume versuchte noch mehrmals, der Sonne Fragen zu stellen, aber sie erhielt keine Antwort. Dennoch spürte sie tief in ihrem Innern, dass sie keiner Täuschung erlegen war. Sie glaubte den Worten der Sonne, und wie in ihrer Kindheit spielte sie übermütig und ausgelassen mit den Sonnenstrahlen, bis ihre ganze Umgebung um sie herum golden leuchtete. Die silbernen Sträucher waren sehr verwundert, denn die kleine Blume hatte in den letzten Jahren nur noch ein mattes Glänzen hervorgebracht, und sie tuschelten empört miteinander über den Fremdling in ihrer Mitte. Sie hatten die verzweifelten Fragen der Blume an einen nicht existierenden Dritten mithören können, nicht jedoch die Worte der Sonne, und waren der Meinung, die goldene Blume müsse jetzt endgültig übergeschnappt sein.
Die kleine goldene Blume störte das missbilligende Gemurmel der Sträucher jedoch überhaupt nicht, sie spürte, wie sie noch einmal für einen Tag aufblühen konnte, und genoss eine längst vergessene Lebenskraft. Als schließlich die Sonne untergegangen war, fühlte sie sich so müde wie nie zuvor, doch schien dies eine angenehme Erschöpfung zu sein, wie wenn man am Abend Ruhe finden darf, nachdem man am Tag die Aufgabe und Arbeit, für die man bestimmt ist, mit ganzer Anstrengung aber auch mit ganzer Freude erledigt hat.
Während es nun dunkler und kühler wurde, erschien ein voller goldener Mond am sternenbedeckten Himmel. Die kleine Blume lächelte den Mond an und sprach: "Vater, ich weiß, dass nun der Moment gekommen ist, dass du mich zu dir zurückholst. Heute war der schönste Tag in meinem Leben, und es tut mir so leid, dass ich diese Erfüllung erst so spät finden konnte. Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr enttäuscht."
Der Mond lachte: "Meine kleine goldene Blume, meine kleine Tochter, ich liebe dich, und ich liebe dich umso mehr für dein Leben, in dem du kein Glück und keine Freude zu finden glaubtest. Ich sehe, dass du schließlich doch noch zur Zufriedenheit und zur Liebe zu dir selbst gefunden hast, und ich freue mich, dich jetzt wieder in meine Arme nehmen zu dürfen."
Die kleine Blume war voller Glück und Freude, sie fühlte sich erleichtert und immer leichter werden. Sie spürte die Liebe des Mondes, sie spürte sie immer größer werden, und schließlich war um sie nur noch Liebe. Der Mond schien größer zu werden, zu wachsen, anzuschwellen, er füllte bald den ganzen Himmel aus, überall war nur noch Mond, das Gold der Blume verschmolz mit dem Gold des Mondes, die Blume war Mond, der Mond war Blume.
Am nächsten Morgen kurz vor Sonnenaufgang näherte sich ein blauer Schmetterling der kleinen goldenen Blume. Er war der letzte der Schmetterlinge, die damals ausgezogen waren, die Freude zu suchen, und obwohl auch er mittlerweile sehr alt geworden war, hatte er die kleine Blume doch nicht vergessen. Als er sich auf eines ihrer goldenen Blätter setzte, bemerkte er verwundert, wie sonderbar welk sich das Blatt anfühlte. Mit einem Blick in das ungewöhnlich zufrieden lächelnde Gesicht der kleinen Blume wusste er, dass sie nicht schlief. Sie musste in der Nacht gestorben sein.
Der Schmetterling konnte im Gesicht der Blume auch ihre Freude ablesen, er konnte sogar noch etwas davon fühlen. Die Sonne kam hinter dem Horizont hervor, und ihr junges Licht spiegelte sich glänzend auf den Blättern der goldenen Blume und auf den Tränen des blauen Schmetterlings.

 

 

 

Das Borstenkind

(Siebenbürgen)

 

 

Eine Königin saß vor ihrem Palast unter einer großen Linde und schälte sich einen Apfel. Ihr dreijähriger Sohn spielte in ihrer Nähe und hätte auch gerne ein Stückchen gehabt. Weil ihm aber seine Muter nichts geben wollte, hob er die Schalen auf und aß sie. Als die Königin das sah, vergaß sie sich und rief im Ärger: „Ei, dass di ein Schweinchen wärest!“ Siehe, da war der Königsknabe plötzlich ein Schweinchen und quiekte und lief hinaus zur Herde.

Nun lebten an dem Saum des Waldes zwei arme Leutchen, die hatten keine Kinder, und das schmerzte sie sehr. Sie saßen gerade vor dem Haus, als am Abend die Schweine heimkehrten.

Da sprach die Frau zu ihrem Mann: „Wenn uns Gott doch ein Kind bescherte, und wäre es auch rau und borstig wie ein Schwein.“ Siehe, da kam gleich aus der Herde ein junges Schweinchen heran gelaufen und schmeichelte und streichelte sich an die Alten und wollte nicht von ihnen, so dass sie sahen, ihr Wunsch war erfüllt. Nun nahmen sie es zu sich in die Stube wie ihr Kind, pflegten es fein, gaben ihm Semmeln und Milch zu essen und machten ihm auch ein weiches Bett. Frühmorgens, wenn der Hirt die Herde trieb und das Horn ertönte, konnte er es daheim nicht aushalten, und man ließ es hinaus, und es lief mit. Abends kehrte es immer wieder heim, dann liebkoste es der Mann und die Frau, und es grunzte vor Freude. Aber was merkwürdig war, es konnte auch sprechen wie ein ordentlicher Mensch. Es wuchs sehr langsam, und erst nach siebzehn Jahren war es endlich ein ganz großes Eberschwein.

Da geschah es, dass eines Abends die beiden Eheleute miteinander sprachen, der König habe aufgeschrieben, er wolle seine einzige Tochter nur dem zum Weibe geben, der drei Aufgaben lösen könne, aber noch habe kein Königssohn dies vermocht. Siehe, da richtete sich ihr Borstenkind pfeilgerade empor und sprach: „Vater, führt mich zum König und verlangt für mich seine Tochter.“ Der Mann erschrak über diese Kühnheit so sehr, dass ihm der Atem stockte. „Wo denkst du hin, mein Sohn, was würde der König tun, wenn ich es wagte, so ein Verlangen zu stellen.“ Doch das Borstenkind ließ nicht ab und schrie und grunzte dem Manne tagtäglich in die Ohren: „Vater, geht zum König, ich kann das nicht länger aushalten, geht nur , es wird euch nichts geschehen.“

Endlich gab der Mann nach, nahm Abschied von seiner Frau und wanderte der Königsstadt zu. Sie kamen ans Schloss. Es wurde das Tor geöffnet, das Schwein aber wollte man nicht hineinlassen. Doch drängte sich dieses durch alle Wachen hindurch bis in das Vorzimmer des Königs. Hier blieb es zurück. Der Mann trat zitternd vor den König und bat für seinen Sohn um die Hand der Prinzessin. „So bringt ihn herein, dass ich ihn sehe!“

Als nun der Bauer die Türe öffnete, stürzte der Eber mit einem „Roh, roh!“ hinein.

„Was ist das?“ schrie der König wütend, „ist das dein Sohn?“

„Ja“, stammelte der Mann.

„Wie kannst du dich unterstehen, mit dem garstigen Tier zu mir zu kommen?“ Da rief er schnell seine Diener und ließ den Mann samt dem Schwein in den tiefsten Kerker werfen. Nun klagte und jammerte der alte Mann und sprach zu seinem Borstensohn: „Siehst du es jetzt, wohin du mich gebracht hast.“

„Lasset das nur gut sein, es wird schon anders werden.“

Am anderen Morgen sollte der Alte aufgehängt und das Schwein gestochen werden. Da bedachte sich der König und sprach: „Wohlan, ich will Gnade ergehen lassen. Wenn dein Sohn, ob er nun auch ein garstiges Tier ist, die drei Aufgaben lösen kann, so soll er meine Tochter zur Gemahlin bekommen und ich will dich dazu noch mit reichen Geschenken entlassen. Löst er sie nicht, so hat dein und sein Leben ein Ende.“

„Jetzt haben wir gewonnen“, sprach das Borstenvieh zu seinem Vater und tröstete ihn.

Abends ließ der König sagen, dass das Schloss, in dem er wohnte, bis zum nächsten Tage aus purem Silber sein solle. Da hörte man es in der Nacht nun einige Male knarren und krachen, dann ward es still. Als der König am Morgen erwachte und die Sonne durchs Fenster schien, blendete ihn das Licht so sehr, dass er die Augen schließen musste; er stand auf und sah, dass alles aus Silber war.

„Das ist gelungen, aber die zweite Aufgabe wird er nicht lösen.“

Abends ließ der König sagen, dass bis zum nächsten Morgen, seinem Schloss gegenüber sieben Meilen weit, ein ebenso großes Schloss aus purem Golde gebaut sein solle.

Man hörte es in der Nacht wieder nur einige Mal krachen und brausen, und es ward still. Als am Morgen der König erwachte, strahlte ein so reicher Glanz auf ihn durch die Fenster, dass er fast erblindete. Er sprang aus dem Bett, und sowie sich seine Augen ein wenig gewöhnt hatten, sah er auf einmal in der Ferne das goldene Schloss.

„Ha, auch das ist gelungen“, rief der König und erstaunte nicht wenig. „Die dritte Aufgabe kann er mir dennoch unmöglich lösen.“

Abends ließ der König sagen, dass bis zu nächsten Morgen von dem einen Schloss bis zum anderen eine Brücke aus lauter Diamantkristall gebaut sein solle, so dass der König gleich darauf spazieren könne. Man hörte es wieder on der Nacht einige Mal klirren und klappern, dann war es still. Es war aber noch lange nicht Tag, als der König erwachte, und es schien so hell durch die Fenster, als stehe die Sonne schon lange am Himmel. Er sprang aus dem Bett und sah neugierig hinaus. Da konnte er sich vor Erstaunen nicht fassen, als er sah, dass aller Glanz von der wundervollen Brücke kam, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen. Er ließ nun seine Tochter rufen und sprach: „Du siehst, die drei Aufgaben sind gelöst. Du musst nun das Weib dessen werden, der sie gelöst hat.“

„Ja mein Vater“, sprach die Königstochter, „das will ich auch gerne tun, da ihr es gelobt habt.“

Doch die Königin war untröstlich und sprach: „Was, soll meine Tochter einen wilden Eber zum Gemahl haben und von den spitzen Borsten zerstochen werden?“

„Das lässt sich nun nicht mehr ändern“, sprach der König, „ich habe mein Wort gegeben.“ Er ließ alsbald den Mann mit seinem Sohn aus dem Gefängnis holen, und dir Hochzeit wurde gefeiert, dann zog der Alte reich beschenkt nach Hause.

Als aber am Abend die Königstochter in das Schlafzimmer ging, zitterte und zagte sie, und ihre Mutter weinte immerfort und nahm zuletzt Abschied, als sähe sie ihre Tochter zum letzen mal lebendig. Als das Brautpaar allein war, warf der Eber plötzlich sein raues Kleid ab, und es lag neben der Königstochter ein Jüngling von wunderschöner Gestalt und mit goldenen Haaren. Die Königstochter verlor alsbald alle Furcht aus ihrem Herzen. Da erzählte ihr der Jüngling, er sei ein verwünschter Königssohn, er werde aber bald ganz erlöst sein, nur solle sie Geduld haben und schweigen. Am frühen Morgen, als es kaum dämmerte, ertönte das Horn des Hirten. Der Jüngling sprang auf, warf sein Borstenkleid über und lief grunzend zur Herde.

Die alte Königin hatte die Nacht nicht geschlafen. Sie kam ganz früh, um zu sehen, ob ihre Tochter noch lebe. Weil aber alle Türen offen standen, ging sie immer näher und näher, bis sie ihre Tochter allein im Bett erblickte. Sie schlief noch, allein ihr Gesicht war so verklärt, als habe sie einen lieblichen Traum. „Lebst du, mein liebes Kind?“ rief endlich die Königin. Da erwachte die Tochter und war munter und fröhlich.

Die Mutter hätte nun gerne alles gewusst. Allein, sie konnte der Tochter lange nichts entlocken. Zuletzt sagte diese doch ganz leise und im Vertrauen: „Mutter, mein Gemahl ist kein Eberschwein, sondern ein wunderschöner Königssohn mit goldenen Haaren. Das Borstenkleid legt er ab, wenn er ins Bett kommt.“

Die Mutter war neugierig und passte in der kommenden Nacht auf und sah durch eine Mauerritze ins Schlafgemach. Da überzeugte sie sich, dass ihre Tochter die Wahrheit gesprochen hatte. Als das Horn des Hirten am frühen Morgen wieder ertönte und der Gemahl der Königstochter sein Borstenkleid umwarf und zur Herde eilte, da kam die Königin sogleich zu ihrer Tochter mit frohem Gesicht und sprach: „Warte nur, du sollst bald immerfort, auch am Tage, deinen Mann in seiner Schönheit sehen. Wenn er heute Abend heimkehrt und im Bette schläft, lasse ich den Ofen heizen und das Borstenkleid hineinwerfen, dann muss er so bleiben wie er ist.“

Der Königstochter pochte das Herz vor Freude und Angst, sie wollte und wollte nicht und dachte an das Verbot ihres Gemahls. Allein ihre Mutter redete ihr so viel zu, dass sie sich beruhigte. Nun geschah es, dass in der Nacht, als der Gemahl der Königstochter schlief, das Borstenkleid ihm heimlich fortgenommen und im Ofen verbrannt wurde. Als am anderen Morgen das Horn des Hirten wieder ertönte, sprang er auf, suchte sein Kleid, aber vergebens. Endlich merkte er, was vorgegangen war. Da ward er auf einmal sehr traurig und brach in schmerzliche Klagen aus: „Wehe, du hast nicht geschwiegen, meine Erlösung hast du vereitelt. Jetzt bin ich verwünscht, weit weg zum Ende aller Welten, und keine sterbliche Seele kann dahin gelangen, um mich zu erretten.“ Damit ging er hinaus und ward auf einmal verschwunden.

Nun aber fing die Königstochter an zu jammern und zu klagen, dass es einen Stein hätte erbarmen müssen, und das ganze Schloss war bald auf, und ihre Mutter lief zu ihr hin und fragte: „Was fehlt dir denn, liebes Kind?“

„O Mutter, Mutter, wie habt ihr so schlecht getan. Mein Liebster ist nun verwünscht zum Ende aller Welten, und keine Seele kann ihn erretten.“ Sie war auf keine Weise zu trösten, was man ihr immer sagen mochte. Nach einigen Tagen sprach sie: „Vater und Mutter, lebt wohl“ Ich kann nicht länger hier bleiben. Ich muss hingehen zum Ende aller Welten und meinen Liebsten suchen.“

„Oh, mein Kind“, sagte der Vater, „das Ende aller Welten ist gar weit, bis dahin kannst du nie und nimmer gelangen.“

„Ich muss hin, Vater, ich kann es hier nicht aushalten.“

Da gab man ihr sieben Kleider und sieben Paar Schuhe und einen Sack mit Brot auf den Weg, und als sie Abschied genommen, ging sie fort, ohne zu ruhen und zu rasten, denn sie wollte keinen Augenblick verlieren. Endlich sah sie die Wohnungen der Menschen nicht mehr. Da ging sie noch schneller, denn sie dachte, das Ende der Welten müsse jetzt bald da sein. Aber es zeigte sich noch lange nicht. Endlich erblickte sie in weiter Ferne wieder ein einsames Häuschen. Sie eilte so schnell sie nur konnte darauf zu, und als sie es erreicht hatte, kehrte sie ein. Es wohnte aber der Wind darin.

Sie fragte in bittendem Ton, ob es noch weit sei bis zum Ende der Welt. Der Wind sah gleich, dass es eine Unglückliche war, und sprach: „Oh, mein gutes Kind, das kann ich dir nicht sagen. Aber schwinge dich hier auf mein Flügelross und reite zum Mond. Vielleicht kann der die Auskunft geben. Wenn du dort bist, so springe nur ab, mein Ross kommt schon von allein zurück. Aber siehe, ich schenke dir ein Mäuschen, vielleicht kannst du es einmal brauchen.“

Die Königstochter dankte dafür, setzte sich auf das Ross des Windes und flog fort zum Mond. Als dieser von weitem die traurige Gestalt kommen sah, erbarmte er sich und dachte gleich: „Die drückt ein Unglück“, und kam ihr freundlich entgegen.

Sie sprang ab, und sogleich flog das Ross des Windes zurück. Sie trug nun ihre Bitte vor, aber der Mond wusste auch keine rechte Antwort. „Besteige“, sagte er, „mein Ross und reite zur Sonne, die wird gewiss das Ende der Welten kennen, da sie sehr weit gereist ist. Ich schenke dir aber hier eine silberne Nuss, verwahre sie wohl, sie wird dir einmal gute Dienste tun.“

Die Königstochter dankte, setzte sich auf das Ross des Mondes und flog zur Sonne. Es war schon Abend, als sie hingelangte, und die Sonne war von ihrer Tagesarbeit eben nach Hause gekommen. Die Königstochter grüßte wie eine Unglückliche und sprach: „Liebe Sonne. Kannst du mir nicht sagen, wo und wie weit noch das Ende der Welten ist?“ Da sah die Sonne gleich, dass die Fremde ein schwerer Kummer drückt, und sprach mitleidig: „Oh, mein armes Kind, das weiß ich wohl, aber das ist sehr weit. Wenn du bis morgen warten kannst, so will ich dich hinführen.“

Doch die Königstochter bat so flehentlich und sprach, sie dürfe keinen Augenblick ruhen, bis sie hinkomme. Da sagte die Sonne: „Wenn das so ist, so will ich dir meinen Wagen und meine Rosse geben. Fahre nur hier auf dem Wege der Nacht fort, und meine Kinder, die Sterne, werden dir den rechten Weg zeigen. Wenn du beim Abendstern bist, so hast du nicht mehr weit zum Ziel, springe dann nur ab. Meine Rosse kommen mit dem Wagen schon zurück. Siehe, ich schenke dir eine goldene Nuss, vielleicht kannst du sie einmal brauchen.“

Die Königstochter dankte freundlich der milden Frau, setzte sich in den Sonnenwagen und fuhr den Himmel entlang. Sie kam zuerst zum Morgenstern. Der kam gleich dienstfertig heran und zeigte der Königstochter den rechten Weg, und nun kam sie zu allen Sternen, die wir am Himmel sehen, und jeder war willig und behilflich. Endlich gelangte sie zum Abendstern, der wohnte in einem einsamen Häuschen am Meer. Er war eben eingeschlafen und wunderte sich nicht wenig, als er den glänzenden Sonnenwagen sah, der doch vor kurzem da gewesen. Sogleich sprang er aus dem Bett und ging hinaus. Da stieg die Königstochter aus dem Wagen, und alsbald flogen die Sonnenrosse auf dem Wege der Nacht zurück, damit die Sonne am Morgen ihre Fahrt zur rechten Zeit antreten könne.

Nun erzählte die Königstochter dem Abendstern ihre ganze Geschichte, und dieser sprach: „Harre nur aus, bald bist du am Ziel. Siehst du dort in der Ferne jene Insel? Da weilt dein Gemahl, und morgen gerade soll er mit der Tochter des Königs vom Weltenende Hochzeit halten. Ich führe dich jetzt gleich hinüber, stelle dich dann als Bettlerin vor den Königspalast. Du bist es in Wahrheit, denn von der weiten Reise sind deine Schuhe und Kleider abgerissen. Wenn dann am Morgen der Zug in die Kirche geht, so öffne nur die Nuss, die dir der Mond gegeben. Da findest du ein silbernes Kleid, lege es an und gehe mit zur Kirche, das übrige wird sich von selbst ergeben.“  Nun schenkte der Abendstern der Königstochter auch eine sterngefleckte Nuss und führte sie auf seinem goldenen Kahn hinüber, und sie stellte sich in ihren zerrissenen Kleidern an die Pforte der Königsburg.

Als nun die junge Frau in vollem Schmuck zur Kirche ging und die Arme erblickte, rief sie zornig: „Jagt mir die zerlumpte Bettlerin fort!“ Diese lief auf die Seite, nahm schnell ihre silberne Nuss hervor, öffnete sie, und alsbald erhob sich daraus ein wunderschönes silberfarbenes Kleid. Sie zog es eiligst an und ging zur Kirche.

Als die Leute den wunderbaren Glanz sahen, da erstaunten sie, und alles blickte auf die Fremde im Silberkleid. Die Braut stand eben vor dem Altar neben ihrem Bräutigam und sah auch das wundervolle Kleid. Da rief sie ihrem Bräutigam zu: „Nein, bis ich nicht ein solches Kleid habe, will ich nicht dein Weib werden!“ Sie ging vom Altar weg und nach Hause. Die Fremde in ihrem Silberkleid war aber zuerst aus der Kirche hinausgegangen, hatte schnell ihr Kleid abgelegt und sich wieder in ihre Lumpen gehüllt. Nun fragte man sogleich im ganzen Königreich nach, aber ein solches Kleid war nirgends zu finden.

Da ließ die Bettlerin der Königstochter sagen, wenn sie ihr erlaube, eine Nacht im Schlafgemach ihres Bräutigams zu wachen, so wolle sie ihr das Kleid verschaffen. Die Königstochter bewilligte das gerne, sie ließ aber ihrem Bräutigam die Ohren verstopfen und einen Schlaftrunk geben.

In der Nacht kniete nun die Bettlerin an der Lagerstatt ihres Gemahls und erzählte ihm wehklagend ihre Mühen und Leiden: „Siehe, ich bin dir gefolgt bis ans Ende aller Welten. Sieben Kleider und sieben Paar Schuhe habe ich zerrissen, so höre doch und erbarme dich meiner Not um des Kindes willen, das ich unter dem Herzen trage.“  Aber der Königssohn schlief einen eisernen Schlaf und hörte nichts.

Am folgenden Tag, als die Königsbraut das silberne Kleid angetan hatte, war sie fröhlich, und nun ging sie wieder zur Kirche, um sich trauen zu lassen. Da nahm die Bettlerin ihre goldene Nuss hervor, und darin lag ein Kleid aus lauter Gold. Sie legte es an und ging zur Kirche. Eben sollte über das Paar der Segen gesprochen werden, da sah die Frau die Fremde im goldenen Kleide. Sogleich rief sie: „Nein, bis ich nicht ein solches Kleid habe, kann ich nicht dein Weib werden“, und ging aus der Kirche wieder eilends nach Hause.

Die Fremde war wieder zuerst hinausgegangen, hatte sogleich ihr goldenes Kleid in die Nussschale gelegt und sich in ihre Lumpen gehüllt. Man fragte im ganzen Reiche vergeblich nach einem solchen Kleide. Da ließ die Bettlerin der Königsbraut sagen, wenn sie ihr erlaube, wieder eine Nacht im Schlafzimmer ihres Bräutigams zu wachen, so wolle sie ihr das Kleid verschaffen. Die Königstochter willigte ein, ließ jedoch abermals ihrem Bräutigam die Ohren verstopfen und einen Schlaftrunk reichen. Wieder kniete die Unglückliche am Lager ihres Gemahls und klagte. Es war jedoch alles umsonst, er schlief fest und hörte nichts.

Den folgenden Tag ging es wieder zur Kirche. Die Braut hatte das goldene Kleid angelegt, und schöneres konnte man sich nicht denken. Die Bettlerin nahm jetzt ihre sternbefleckte Nuss vom Abendstern hervor, und daraus zog sie ein Kleid, darauf war der ganze Sternenhimmel der Nacht zu sehen. Als sie in die Kirche trat, sprach eben der Geistliche den Segen. Kaum hatte die Braut aber die Fremde im Sternenkleid erblickt, so rief sie dem Priester zu: „Halt, bis ich nicht ein solches Kleid habe, will ich nicht das Weib dieses Mannes werden.“ Sie eilte nach Hause, und man fragte im ganzen Reich nach einem solchen Kleid. Das war aber noch weniger zu finden als das goldene und das silberne.

Da ließ die Bettlerin der Königstochter wieder sagen, wenn man ihr erlaube, die Nacht im Schlafgemach des Bräutigams zuzubringen, so würde sie es ihr verschaffen. Die Braut war zufrieden, sie ließ ihrem Bräutigam auch diesmal die Ohren verstopfen und ihm einen Schlaftrunk reichen. Als in der Nacht die Arme zum dritten Mal vor dem Bett ihres Gemahls kniete, fing sie bitter an zu weinen und zu klagen: „Ach, er wird wieder schlafen und nicht hören, und nun habe ich nichts mehr, das mich zu ihm führen kann.“ Da nahm sie das Mäuschen aus ihrem Busen und sprach: „Liebes Mäuschen, kannst du mir nicht helfen?“

Das Mäuschen sprang sogleich auf das Bett, kroch dem Schlafenden in die Ohren und nagte die Stöpsel durch, aber der Jüngling schlief noch fest, denn der Schlaftrunk tat seine Wirkung. Da biss das Mäuschen ihm in die Ohren, so dass das Blut rann, endlich schlug er die Augen auf und rief: „O weh, was ist das?“ Zugleich sah er die unglückliche Gestalt vor seinem Bette. Sie sprach: „Lieber Gemahl, wachst du endlich? Siehe, das ist die dritte Nacht, dass ich bei dir war“, und sie erzählte ihm nun ihre ganze Geschichte: „Ich bin dir gefolgt bis zum ende aller Welten, sieben Kleider und sieben Paar Schuhe habe ich zerrissen, erbarme dich doch meiner Not um des Kindes willen, das ich unter dem Herzen trage.“

Da fiel ihr Gemahl ihr um den Hals und rief: „Oh, meine Liebste, so war es kein Traumbild, das mir die beiden vergangenen Nächte während des Schlafs vorschwebte, du bist es selbst, die ich so lange vermisst habe. Nun bin ich durch deine Treue vollends erlöst. Fahre wohl, du stolze Königstochter vom Weltenende, dich brauche ich nicht, ich habe mein treues, geliebtes Weib wieder.“

Darauf machten sie sich auf der Stelle fort und flohen aus der Königsburg ans Meer. Da war eben der Abendstern mit seinem Kahn und hatte einen Weltpilger herübergeschifft. Er nahm die beiden freundlich auf und führte sie hinüber. Es wurde gerade Tag, und die Sonne trat auf der anderen Seite der Welt ihre Arbeit an.

Da sprach der Abendstern: „Bleibt in meiner Hütte den heißen Tag über, wenn die Sonne abends mit ihrem Wagen kommt, so wird sie euch dann mitnehmen.“ Das taten sie auch.

Als aber am Morgen die Königstochter drüben auf der Insel das prachtvolle Sternenkleid angelegt hatte und zur Kirche gehen wollte, fand man ihren Bräutigam nicht. Man sagte ihr aber, in der Nacht sei ein Jüngling mit einer Bettlerin zum Meere geflohen und beide seien vom Abendstern im Kahne hinübergeschifft worden. „Ha, die verwünschte Bettlerin und der falsche Abendstern!“ Sie tobte und wütete noch lange fort, allein es half das alles nichts, denn über das Meer hatte sie keine Macht.

Während aber die beiden Flüchtenden in der Hütte des Abendsternes verweilten, ging gerade das Jahr zu Ende seit ihrer Hochzeit, und die junge Frau gebar einen wunderschönen Knaben, der hatte ein Antlitz silberweiß wie der Mond, Locken von Gold wie die Sonne und Augen wie der Morgen- und Abendstern. Als die Sonne am Abend anlangte, hatte sie große Freude über das glückliche Paar und das schöne Kind. Sie nahm sie willig in ihrem Wagen auf und fuhr auf dem Wege der Nacht schnell zu ihrer Wohnung, wo sie am späten Abend anlangte.

Hier war schon der Mond, der Aufträge von der Sonne erwartete. Er freute sich auch, als er die Glücklichen sah. Die Sonne befahl ihm, er solle die guten Leute bis zu seiner Wohnung mitnehmen und dann dem Winde auftragen, sie bis zu den Wohnungen der Menschen zu begleiten. Der Mond nahm sie alsbald auf sein Ross und ritt heim. Da war auch schon der Wind und freute sich über alle Maßen, als er die Königstochter wieder sah und ihren Gemahl und das schöne Kind und insbesondere als er hörte, dass sein Mäuschen so gute Dienste getan. Der Mond sagte ihm, was er zu tun hatte, und der Wind nahm die Glücklichen auf sein Ross und führte sie in einem fort, bis in die Nähe der Menschenwohnungen. Da setzte er sie nieder, nahm herzlichen Abschied und ritt heim.

Sie aber wanderten jetzt zu Fuß fort und trugen ihr Kind abwechselnd auf dem Armen und waren glücklich. Endlich gelangten sie in das Königreich, wo der Vater der Königstochter herrschte. Es ist nicht zu beschreiben, welch ein großer Jubel im ganzen Lande entstand und wie alle Wege mit Blumen bestreut und alle Tore festlich geschmückt waren, als sie einzogen. Der alte König gab bald die Krone seinem Schwiegersohn, und dieser lebte mit seiner Gemahlin noch lange glücklich und zufrieden.

 

 

 

 

 

 

 

Das Siebengestirn

(Serbien)

 

 

Weit hinter Bergen und Seen, da lagen einst zwei Zarenreiche, in dem einen herrschte Zar Petar, in dem anderen Zar Tatarin. Zar Petar hatte eine einzige Tochter, die war so schön, dass die Kunde von ihrer großen Schönheit durch alle Lande ging, und bald hörte auch Zar Tartarin davon. Er sandte Zar Petar einen Boten mit der Nachricht, dass er die wunderschöne Zarentochter zur Frau begehre. Sollte er sie aber nicht bekommen, so werde er mit einem großen Heer erscheinen, das Zarenreich Petars unterwerfen und brandschatzen, Petar gefangen nehmen und seine Tochter entführen.

Als Zar Petar diese Kunde vernommen, da sprach er zu dem Boten: „Geh heim und sage Deinem Zaren, dass meine Tochter gestorben ist. Er möge sich eine andere Braut suchen und vom Brandschatzen und Kriegführen ablassen.“

Als der Bote gegangen war, ließ Zar Petar sogleich einen starken Turm bauen und Nahrung für drei Jahre hineinschaffen. Dann schloss er sich mit seiner Tochter im Turm ein und ließ ihn zumauern. Sein Reich hatte er einem treuen Diener übergeben, damit dieser herrsche, und er hatte befohlen, dass man jedem, der in das Reich komme und nach Zar Petar und seiner Tochter frage, sagen solle, die Zarentochter sei gestorben, Zar Petar aber sei nicht in seinem Reiche, sondern zur Zarin Sonne gereist. Er wolle sie fragen, weshalb im Winter die Tage nicht genau so lang sind wie im Sommer und weshalb es dann kalt sei, so dass seine Untertanen nicht mehr arbeiten können, sondern beim Erzählen von Geschichten die Zeit dahin brächten. Nach drei Jahren aber solle man den Turm öffnen und ihn und seine Tochter befreien.

Es dauerte nicht lange, da erschien Zar Tartarin mit einem großen Heer an der Grenze des Reiches, um von Zar Petar die Hand seiner Tochter zu fordern. Doch alle Leute, die er fragte, sagten ihm, die schöne Zarentochter sei gestorben, Zar Petar aber sei zur Zarin Sonne gereist, um sie zu fragen, weshalb im Winter die Tage nicht genau so lang wie im Sommer seien und weshalb es dann so kalt sei, dass die Menschen in seinem Reich nicht immer arbeiten könnten. Zar Tatarin sah sich im ganzen Reiche um, da er aber Zar Petar und die schöne Zarentochter nirgends finden konnte und überall Grabesstille herrschte, so kehrte er schließlich in sein Zarenreich zurück.

Als nun drei Jahre um waren, da öffnete man den Turm, und Zar Petar trat heraus, seine Tochter war jedoch nirgends zu finden. Und Zat Petar, der doch die ganze Zeit mit ihr im Turme war, wusste nicht zu sagen, auf welche Weise sie verschwunden war.

An jenem Tage, an dem der Turm geöffnet worden war, da hatte man auch einen Mann zum Tode verurteilt, und das ganze Volk war zusammen geströmt, um den Verurteilten zu sehen. Wie in die Menge gaffend umstand, da sprach er „Wüsste Zar Petar, was er nicht weiß, und schenkte er mir das Leben, ich würde die schöne Zarentochter schon auffinden und sie zurück bringen.“

Diese Worte des Verurteilten gingen von Mund zu Mund und so kamen sie schließlich auch Zar Petar zu Ohren. Da ließ der Zar den Mann vor sich bringen und fragte: „Könntest du wahrhaftig meine Tochter ausfindig machen und sie mir wiederbringen, wenn dir deine Schuld verziehen und dir das Leben geschenkt würde?“

„Das könnte ich in der Tat, wenn ich nur endlich von diesem schweren Eisen befreit wäre“, antwortete der Gefangene. Sogleich schenkte ihm Zar Petar die Freiheit, gab ihm Wegzehrung und ließ ihn hinausziehen in die Welt um seine Tochter zu suchen.

Lange, sehr lange wanderte der Verurteilte durch die Welt – waren es Monate, waren es Jahre wer weiß es schon zu sagen. Durch neun Welten war er gezogen, überall hatte er nach der schönen Zarentochter gefragt, aber nirgends hatte man sie gesehen, nirgends von ihr gehört. Als er nun an das Ende der neunten Welt gelangte, da fand er ein Haus, und wie er eintrat, dass drinnen ein uraltes Weib.

„Sei gegrüßt, Großmütterchen“, sagte der Gefangene und küsste ihr die Hand.

„Gott stehe dir bei, mein Sohn! Was bringst du Gutes?“ erwiderte die Alte.

„Ich bin auf der Suche nach der schönen Tochter Zar Petars“, antwortete der Mann, und er erzählte der Alten die ganze Geschichte. Wie die Zarentochter aus dem Turm verschwunden sei, und dass nicht einmal ihr Vater das bemerkt habe, dass er selber zum Tode verurteilt worden war und dem Zaren Petar versprochen habe, auszuziehen und seine verschwundene Tochter zu suchen, wenn er ihm das Leben schenke. Und dass er nun schon neun Welten durchwandert habe, aber von der Zarentochter weder eine Spur gefunden noch eine Kunde vernommen habe.

Da sprach das alte Weib zu ihm: „Es ist dein Glück, dass du mich Großmütterchen genannt hast und mir die Hand geküsst hast, denn dadurch bist du mein Sohn geworden. Meine fünf Drachensöhne werden bald nach Hause kommen, und sie zerreißen jeden, den sie bei mir finden, und auch dich werden sie töten wollen, aber ich werde dich nicht herausgeben.“ Dann hieß die Drachenmutter den Jüngling neben sich zu setzen und fuhr fort: „Höre, mein Söhnchen, mein ältester Drachensohn ist so geschickt im Stehlen, dass er ein Lamm aus dem Leib des Mutterschafes holen kann, ohne dass das Schaf etwas davon bemerkt. Mein zweiter Sohn hat eine so feine Nase, dass er jede Spur wittert, auch wenn sie schon neun Jahre alt ist. Mein dritter Sohn ist ein so geschwinder Baumeister, dass er einen großen Turm erbauen kann, ehe man noch in die Hände klatscht. Der vierte ist ein so trefflicher Bogenschütze, dass er einen Stern vom Himmel schießen kann, und der fünfte ist so geübt im Zupacken, dass er einen Blitz mit Händen fassen kann. Wenn meine Drachensöhne die Zarentochter nicht finden und herbeibringen können, dann kann das niemand wirklich auf der Welt.“

Die Drachenmutter hatte kaum zu Ende gesprochen, da ertönte draußen ein Heulen und Pfeifen, dass das Haus erzitterte: die fünf Drachensöhne kamen angeflogen. So schnell sie konnte, versteckte die Alte den Jüngling unter dem Backtrog, damit er nicht von ihren Söhnen zerrissen würde. Die Drachen polterten ins Haus und riefen: „Guten Abend Mütterchen!“

„Gott stehe euch bei, meine Söhne, seid willkommen!“

„Hier ist eine Menschenseele“, rief der Jüngste, „sprich, Mütterchen, wo ist sie versteckt?“

„Es ist in der Tat ein Mensch hier, mein Sohn“, entgegnete die Drachenmutter, „aber es ist ein Bruder von euch. Er nannte mich Großmütterchen und küsste mir die Hand, und so habe ich ihn als Sohn angenommen.“

„Was will dieser Bruder hier?“ fragte der Jüngste.

„Er wanderte durch neun Welten, um die wunderschöne Zarentochter zu suchen“, antwortete die Mutter, „und morgen, meine Söhne, zieht auch ihr hinaus in die Welt und helft ihm suchen. Jetzt aber schwört mir, dass ihr eurem Bruder nichts antun werdet.“

Und als die Drachenbrüder das versprochen hatten, hob die Alte den Backtrog hoch, und der Jüngling kam hervor. Er begrüßte die Drachen und küsste sie wie seine Brüder, und er vergoss dabei drei Liter Blut. Dann aßen sie zu Abend und legten sich schlafen, um sich auszuruhen.

Beim Morgengrauen machten sich die Drachen und ihr Bruder auf den Weg ins Reich des Zaren Petar. Derjenige mit der feinen Nase roch sogleich, wohin die Zarentochter aus dem Turm entführt worden war. Ein siebenköpfiger Drache hatte sie so geschickt und geschwind wie der Wind mit sich genommen und sie heimgebracht  auf seine Drachenburg.

Nun eilte derjenige, der geschickt im Stehlen war, in die Burg des siebenköpfigen Drachen. Dieser schlief gerade im Schoß der Zarentochter. Da ergriff der Stehler vorsichtig das Mädchen, ohne dass der Siebenköpfige davon erwachte, und flog mit ihr aus der Burg. Bald aber erwachte der Drache, und da wusste er sogleich, wer ihm die Zarentochter geraubt hatte, und wutschnaubend flog er den Fliehenden hintendrein.

Jetzt baute der Drache, der ein flinker Baumeister war, rasch einen Turm, in dem sich seine Brüder und die Zarentochter sogleich  verbergen konnten.

Sie waren kaum im Turme, als auch schon der siebenköpfige Drache herangebraust kam und wütend seine Köpfe schüttelte. Drei wankten von rechts nach links, drei von links nach rechts, den siebten Kopf aber, den in der Mitte, erhob er und spie daraus Feuer. Die Sonne verfinsterte sich, und Dunkelheit umfing die Welt. Und in dieser Dunkelheit hob der fürchterliche Drache seine Pranken, zermalmte den Turm zu Staub, ergriff die Zarentochter und erhob sich mit ihr in die Lüfte. Doch jener von den Drachenbrüdern, der ein guter Bogenschütze war, schoss einen Pfeil ab und traf den siebenköpfigen Drachen mitten ins Herz. Da stürzten der Drache und die Zarentochter zur Erde herab, aber schon eilte der Bruder, der geübt im Zupacken war, herbei und fing das Mädchen so sanft auf, dass ihm nichts geschah. Die übrigen Brüder hieben dem siebenköpfigen Drachen noch im Sturze alle sieben Köpfe auf einmal ab.

So retteten die fünf Drachenbrüder und ihr Wahlbruder die Zarentochter, und alle erfreiten sich an ihrem Anblick.

Die Drachen begannen jedoch sogleich zu streiten, wem das Mädchen nun gehören solle. Der Jüngling mischte sich in ihren Streit ein und sagte: „Brüder, das Mädchen gehört mir, ich muss es heimbringen zu seinem Vater, dem Zaren Petar, damit er mir das Leben schenkt. Hätte ich die Zarentochter nicht gesucht, ihr hättet sie nicht gefunden, denn ihr habt nichts von ihr gewusst.“

„Nein, mein ist das Mädchen“, rief der erste Drache, „hätte ich es nicht aufgespürt, so hättet ihr es allesamt nicht, und du hättest es vergeblich gesucht.“

„Mein ist das Mädchen!“ rief der zweite Drache. „Hätte ich es nicht gestohlen, so hättet ihr es jetzt nicht. Du hättest es vergeblich gesucht, und er hätte es umsonst aufgespürt.“

Da sagte der dritte: „Mein ist sie! Hätte ich den Turm nicht so schnell gebaut, in dem ihr euch verbergen konntet, dann hätte dich der siebenköpfige Drache eingeholt und sie dir weggenommen. Dann hättest du sie vergeblich gesucht, er sie umsonst aufgespürt, und er hätte sie umsonst gestohlen.“

„Ich weiß nicht, weshalb ihr euch zankt, liebe Brüder“, sprach der vierte. „Es ist doch ganz klar, dass mir das Mädchen gehört! Hätte ich den Drachen nicht mit meinem Pfeil abgeschossen, so hätte er es abermals entführt. Dann hättest du es vergeblich gesucht, er es umsonst aufgespürt, er es umsonst gestohlen, und er hätte es umsonst im Turm verborgen.“

„Das Mädchen ist mein“, sprach der fünfte Drache. „Hätte ich es im Fallen nicht aufgefangen, so wäre es in Stücke zerschellt, und ihr hättet es jetzt nicht. Dann hättest du es vergebens gesucht, er es umsonst gestohlen, er es umsonst im Turm verborgen und er umsonst den siebenköpfigen Drachen abgeschossen.“

So zankten die fünf Drachensöhne und der Jüngling in einen fort, wem das Mädchen gehören solle. Dabei gelangten sie unversehens zur Windmutter, und sie berichteten ihr, worüber sie stritten, und baten sie um ihr Urteil.

Nachdem die Windmutter die Streitenden angehört hatte, fragte sie: „Liebe Kinder, seid ihr schon bei der Mondmutter gewesen, damit diese euch Recht spreche?“

Dort waren sie jedoch noch nicht gewesen.

„So geht zur Mondmutter, sie wird besser urteilen können als ich, denn sie hat einen Sohn, der einen weiten Teil der Welt durchwandert hat.“

Darauf gingen die Brüder mit der Zarentochter zur Mondmutter und riefen ihr schon von weitem zu: „Die Windmutter schickt uns, damit du uns sagst, wem von uns das Mädchen gehört“, und dann erzählten sie ihr, wie alles gekommen war.

Die Mondmutter fragte sie: „Seid ihr schon bei der Sonnenmutter gewesen?“

Aber auch dort waren sie noch nicht gewesen.

„So geht, ihr lieben Kinder, zur Sonnenmutter. Sie wird euch am besten Rat erteilen können, denn ihr Sohn durchwandert den größten Teil der Welt.“

Da brachen sie auf zur Sonnenmutter, und riefen ihr schon von weitem zu: Uns hat die Mondmutter gesandt, damit du uns sagst, wem von uns das Mädchen gehört“, und sie erzählten auch ihr, wie das alles gekommen war und weshalb sie sich zankten. Die Sonnenmutter fragte sie: „Ihr lieben Kinder, habt ihr denn keine Mutter?“ Und als sie antworteten, dass sie wohl eine Mutter hätten, da schickte sie die Sonnenmutter nach Hause. „Geht heim zu eurer Mutter, denn jede Mutter kann ihren Kindern  am besten Recht sprechen. Auch eure Mutter wird euch am besten raten können.“

So gingen sie schließlich nach Hause, traten vor ihre Mutter und erzählten ihr, wie sie die Zarentochter befreit haben und wie sie nun  von der Sonnenmutter nach Hause geschickt wurden, damit sie Recht spreche, wem das Mädchen gehören solle.

Da sprach die Mutter, nachdem sie sich lange bedacht hatte: „Hört, was ich euch sage! Ihr seid meine Söhne, und sie möge meine Tochter sein. Ihr seid Brüder, und so wie dieser Jüngling euch zum Bruder wurde, so möge sie euch zur Schwester werden. “Und mit diesem Urteil ihrer Mutter gaben sich die fünf Drachensöhne und der Jüngling zufrieden.

Die sechs Brüder und ihre Schwester aber wurden schließlich zu Sternen, und sie stehen bis zum heutigen Tage als das Siebengestirn am Himmel. Jedes Jahr wandern sie von neuem zur Windmutter, zur Mondmutter und zur Sonnenmutter, um sich bei ihnen für ihre Ratschläge zu bedanken. Während dieser Zeit ihrer Wanderung kann man die sieben Sterne nicht am Himmel sehen. Am Sankt-Georgs-Tag brechen sie auf, und erst am Sankt-Veits-Tag kehren sie zurück. Dann können wir sie wieder am Nachthimmel sehen – als das Siebengestirn.

 

 

 

 

 

 

 

Der Mond

(Gebrüder Grimm)

 

 

Vor Zeiten gab es ein Land, wo die Nacht immer dunkel und  der Himmel wie ein schwarzes Tuch darüber gebreitet war, denn es ging dort niemals der Mond auf, und kein Stern blinkte in der Finsternis. Bei der Erschaffung der Welt hatte das nächtliche Licht ausgereicht. Aus diesem Land gingen einmal vier Burschen auf die Wanderschaft und gelangten in ein anderes Reich, wo abends, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, auf einen Eichbaum eine leuchtende Kugel stand,  die weit und breit ein sanftes Licht ausgoss. Man konnte dabei alles wohl sehen und unterscheiden, wenn es auch nicht so glänzend wie die Sonne war.

Die Wanderer standen still und fragten einen Bauer, der da mit seinem Wagen vorbeifuhr, was das für ein Licht sei. „Das ist der Mond“, antwortete dieser, „unser Schultheiß hat ihn für drei Taler gekauft und an dem Eichbaum befestigt. Er muss täglich Öl aufgießen und ihn rein erhalten, damit er immer hell brennt. Dafür erhält er von uns wöchentlich einen Taler.“

Als der Bauer weggefahren war, sagte der eine von ihnen: „Diese Lampe könnten wir gebrauchen, wir haben daheim einen Eichbaum, der ebenso groß ist, daran können wir sie hängen. Was für eine Freude, wenn wir nachts nicht in der Finsternis herumtappen!“

„Wisst ihr was!“ sprach der zweite, „wir wollen Wagen und Pferde holen und den Mond wegführen. Sie können sich hier einen anderen kaufen.“

„Ich kann gut klettern“, sprach der dritte, „ich will ihn schon herunter holen.“

Der vierte brachte einen Wagen mit Pferden herbei, und der dritte stieg den Baum hinauf, bohrte ein Loch in den Mond, zog ein Seil hindurch und ließ ihn herab. Als die glänzende Kugel in dem Wagen lag, deckten sie ein Tuch darüber, damit niemand den Raub bemerken konnte. Sie brachten ihn glücklich in ihr Land und stellten ihn auf eine hohe Eiche. Alte und junge freuten sich, als die neue Lampe ihr Licht über alle Felder leuchten ließ und Stuben und Kammern damit erfüllte. Die Zwerge kamen aus den Felsenhöhlen hervor, und die kleinen Wichtelmänner tanzten in ihren roten Röckchen auf den Wiesen den Ringeltanz.

Die vier versorgten den Mond mit Öl, putzten den Docht und erhielten wöchentlich ihren Taler. Aber sie wurden alte Greise, und als der eine erkrankte und seinen Tod voraussah, verordnete er, dass der vierte Teil des Mondes als sein Eigentum ihm mit in das Grab sollte gegeben werden.

Als er gestorben war, stieg der Schultheiß auf den Baum und schnitt mit der Heckenschere ein Viertel ab, das in den Sarg gelegt ward. Das Licht des Mondes nahm ab, aber noch nicht merklich.

Als der zweite starb, ward ihm das zweite Viertel mitgegeben, und das Licht minderte sich. Noch schwächer wurde es nach dem Tod des dritten, der gleichfalls seinen Teil mitnahm, und als der vierte ins Grab kam, trat die alte Finsternis wieder ein.  Wenn die Leute abends ohne Laterne ausgingen, stießen sie mit den Köpfen zusammen.

Als aber die Teile des Mondes in der Unterwelt sich wieder vereinigten, so wurden dort, wo immer Dunkelheit geherrscht hatte, die Toten unruhig und erwachten aus ihrem Schlaf. Sie erstaunten, als sie wieder sehen konnten. Das Mondlicht war ihnen genug, denn ihre Augen waren so schwach geworden, dass sie den Glanz der Sonne Licht ertragen hätten. Sie erhoben sich, wurden lustig und nahmen ihre alte Lebensweise wieder an. Ein Teil ging zu Spiel und Tanz, andere liefen in die Wirtshäuser, wo sie Wein forderten, sich betranken, tobten und zankten und endlich ihre Knüttel aufhoben und sich prügelten. Der Lärm ward immer ärger und drang endlich bis in den Himmel hinauf.

Der heilige Petrus, der das Himmelstor bewacht, glaubte, die Unterwelt sei in Aufruhr geraten, und rief die himmlischen Heerscharen zusammen, die den bösen Feind, wenn er mit seinen Gesellen den Aufenthalt der Seligen stürmen wollte, zurück jagen sollten. Da sie aber nicht kamen, so setzte er sich auf sein Pferd und ritt durch das Himmelstor hinab in die Unterwelt. Da brachte er die Toten zur Ruhe, hieß sie sich in ihre Gräber legen und nahm den Mond mit fort, den er oben am Himmel aufhing.

 

 

 

 

 

 

 

Die Hexe und die Schwester Sonne

(Russland)

 

 

In irgendeinem Zarenreich, in einem fernen Reich, lebten ein Zar und eine Zarin, die hatten einen Sohn Iwan Zarewitsch der von Geburt an stumm war. Als Iwan zwölf Jahre alt war, ging er eines Tages zu seinem geliebten Pferdeknecht, der ihm immer Märchen erzählte. Auch dieses Mal hoffte er eine Geschichte zu hören, der Knecht aber sprach zu ihm: „Höre, Iwan Zarewitsch, ich weiß, dass deine Mutter bald eine Tochter zur Welt bringen wird. Diese aber wird eine schreckliche Hexe sein und Vater und Mutter und die ganze Dienerschaft verschlingen. Darum gehe rasch zu deinem Vater und bitte ihn um das allerbeste Pferd. Gib vor, du wolltest ein wenig ausreiten, und reite fort von hier. Reite, so weit du kannst, nur so kannst du dein Leben retten.“

Da eilte Iwan Zarewitsch zu seinem Vater, und siehe, er konnte sprechen. Der Zar war darüber so glücklich dass er voller Freude sogleich gebot, das beste Ross für seinen Sohn zu satteln.

Iwan Zarewitsch saß auf und ritt so weit die Augen schauten. Lange, lange ritt er. Endlich gelangte er zu zwei alten Näherinnen und bat sie, ihn bei sich aufzunehmen.

„Gerne würden wir dich bei uns behalten, Iwan Zarewitsch, doch wir haben noch kurze Zeit zu leben. Wir sind daran, eine Truhe voll Nähnadeln zu zerbrechen und eine Truhe voll Faden zu Ende zu nähen. Ist dieses Werk getan, dann müssen wir sterben.“

Iwan Zarewitsch fing an zu weinen und ritt weiter. Lange, lange ritt er, bis er zum Eichenausreißer kam. Er bat ihn, ihn bei sich aufzunehmen.

„Gerne würde ich dich bei mir behalten, Iwan Zarewitsch, doch ich habe nur noch kurze Zeit zu leben. All diese Eichen muss ich mit der Wurzel ausreißen. Ist dieses Werk getan, dann muss ich sterben.“

Der Zarensohn weinte heftiger als zuvor und ritt weiter.

Er gelangte endlich zum Bergumwender, und auch diesen bat er, ihn bei sich aufzunehmen.

„Gerne würde ich dich bei mir behalten, Iwan Zarewitsch, doch ich habe nur noch kutze Zeit zu leben. Du siehst, ich stehe da und wende die Berge um. Wenn ich mit dem letzten fertig bin, dann muss ich sterben.“

Iwan Zarewitsch weinte bitterlich und ritt weiter.

Lange, lange ritt er, bis er zuletzt zur Schwester Sonne kam. Sie nahm ihn bei sich auf, gab ihm zu essen und zu trinken als wäre er ihr eigener Sohn. Lange Zeit lebte Iwan Zarewitsch glücklich bei der Schwester Sonne.

Aber eines Tages überfiel ihn das Heimweh und er wollte erfahren, was im Elternhaus vor sich ging. Da stieg er auf einen hohen Berg und schaute nach dem Palast seiner Eltern. Als er sah, dass dort niemand mehr lebte und nur noch die Mauern standen, fing er an zu weinen und zu klagen.

„Du siehst ausm als habest du geweint“, sprach die Schwester Sonne, als er zu ihr zurückkehrte. Er aber antwortete: „“Der Wind blies mir in die Augen.“

Noch einmal stieg Iwan Zarewitsch auf jenen Berg, und auch diesmal vergoss er bittere Tränen über sein Geschick.

Als nun wiederum die Schwester Sonne sprach: „Du siehst aus, als habest du geweint“, antwortete er abermals: „Der Wind blies mir in die Augen.“

Da verbot die Schwester Sonne dem Wind zu blasen.

Doch als Iwan Zarewitsch ein drittes Mal auf jenen Berg gestiegen war und mit verweinten Augen zurückkehrte, da musste er der guten Schwester Sonne seinen Kummer gestehen, und er bat sie, ihn in die Heimat ziehen zu lassen, um Kunde zu holen. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Iwan aber bat so lange und inständig, bis sie endlich einwilligte. Und sie schenkte ihm zum Abschied eine Bürste, einen Kamm und zwei rotbackige Äpfel.

Mit der Bürste konnte man Berge entstehen lassen, warf man sie nur auf die Erde. Nahm man den Kamm und warf ihn zur Erde, so wuchs augenblicklich ein Wald. Wenn ein Mensch aber einen der rotbackigen Äpfel aß, so wurde er wieder jung, wie alt er auch gewesen sein mochte.

Als Iwan Zarewitsch zum Bergumwender kam,. Stand da nur noch ein einziger Berg. Da nahm er schnell seine Bürste, und siehe, es wuchsen aus der Erde hohe, hohe Berge, die ragten mit ihren Gipfeln bis zum Himmel, und es waren ihrer so viele, dass man sie nicht zählen konnte. Da wurde der Bergumwender wieder froh und machte sich von neuem ans Werk.

Ob er lang geritten oder nur kurze Zeit geritten war – Iwan Zarewitsch gelangte zum Eichenausreißer. Nur noch drei Eichen waren übrig. Da nahm er schnell seinen Kamm, und siehe, es war plötzlich ein gewaltiges Rauschen in der Luft, und aus der Erde wuchsen dichte Eichenwälder, Baum an Baum. Da freute sich der Eichenausreißer, dankte dem Zarensohn und machte sich wieder an sein Werk.

Ob er lang geritten oder nur kurze Zeit geritten war – Iwan Zarewitsch gelangte zu den beiden alten Näherinnen. Da gab er einer jeden einen von den Äpfeln, und siehe, sie wurden augenblicklich jung. In ihrer Freude schenkten sie ihm ein Tuch. Wenn man damit winkte, so entstand ein großer See.

Als Iwan Zarewitsch nach Hause kam, begrüßte ihn seine Schwester freundlich und lud ihn ein, die Gusli, ein Saiteninstrument, zu spielen, indessen sie das Mittagsmahl bereiten wollte. Da setzte sich der Zarensohn und musizierte. Siehe, da kroch aus dem Loch der Gusli ein Mäuschen und sprach zu ihm mit einer menschlichen Stimme: „Fliehe, Zarensohn, ehe es zu spät ist! Wisse, deine Schwester ist gegangen, die Zähne zu wetzen!“

Da eilte Iwan Zarewitsch aus dem Zimmer, sprang auf sein Pferd und galoppierte davon. Das Mäuslein aber hüpfte über die Saiten, damit die Schwester nicht merkte, dass Iwan Zarewitsch hinweggegangen war. Als sie in das Zimmer trat, da war es leer. Nur ein Mäuslein hüpfte über die Gusli. Außer sich vor Zorn knirschte die Hexe mit den Zähnen, dann machte sie sich an die Verfolgung. Fast hätte sie ihren Bruder eingeholt, doch da winkte Iwan Zarewitsch mit dem Tuch, und ein großer See breitete sich hinter ihm aus. Und er galoppierte weiter. Die Hexe aber durchschwamm den See und jagte noch schneller als zuvor hinter ihm her. Schon war sie ganz nah, als der Eichenausreißer sie gewahrte und Eich um Eiche aufeinander türmte und ihr in den Weg warf. Da musste sich die Hexe durch die Stämme hindurchnagen, denn anders konnte sie nicht weiter. Endlich kam sie mit Mühe hindurch, und Iwan Zarewitsch war schon weit. Doch rasend jagte sie ihm nach, und es war nur noch eine kurze Strecke zwischen ihnen. Schon glaubte der Zarensohn seiner Schwester nicht entkommen zu können und glaubte sich verloren. Doch da erblickte der Bergumwender die Hexe und wälzte den größten Berg gerade noch zur rechten Zeit auf ihren Weg, und er türmte auf diesen Berg noch einen anderen. Die Hexe musste hinauf klettern und wieder hinuntersteigen, derweil Iwan Zarewitsch ritt und ritt, so schnell er konnte, und als die Hexe das Gebirge überwunden, war er schon weit. Doch wild jagte sie dem Bruder nach, und sie kam ihm immer näher. Schon konnte sie ihn sehen, und sie rief ihm zu: „Jetzt wirst du mir nicht mehr entwischen!“

Doch Iwan Zarewitsch gab seinem Pferd die Sporen und ritt und ritt. Die Hexe aber kam ganz nahe an ihn heran, fast konnte sie ihn ergreifen, da galoppierte Iwan Zarewitsch zum Gemach der Schwester Sonne und schrie: „ Schwester Sonne, Schwester Sonne, öffne das Fenster!“

Die Sonne machte das Fenster weit auf, und der Zarensohn schwang sich hinein in das Gemach mitsamt seinem Pferd.

Da bat die Hexe die Schwester Sonne um den Kopf ihres Bruders. Doch die Schwester Sonne beschützte den Zarensohn.

Die Hexe aber sprach: „So soll Iwan Zarewitsch mit mir zur Waage gehen, damit wir einander wägen. Bin ich schwerer, so fresse ich ihn mit Haut und Haar. Ist er aber schwerer, so mag er mich töten.“

Da wurde die Waage gebracht, und Iwan Zarewitsch setzte sich in eine Waagschale, dann kletterte die Hexe in die andere. Kaum aber setzte sie sich in die waagschale, da wurde Iwan Zarewitsch empor geschleudert, und zwar mit solcher Gewalt, dass er geradewegs in den Himmel fiel, zur Schwester Sonne ins Gemach. Die Hexe aber ist auf der Erde geblieben.

 

 

 

 

 

 

Die Reise zur Sonne

(Böhmen)

 

 

An einem Königshof lebte einmal ein Küchenjunge. Aber wenn er auch nur Küchenjunge war, er wäre, hätte man ihm kostbare Gewänder angelegt, unstreitig der schönste Junge im ganzen Land gewesen. Eines Tages begegnete ihm die Tochter des Königs, die um weniges jünger war als er, und sie freundeten sich an. Mit der Zeit wuchs die Freundschaft so innig, dass kein Tag verging, an dem sich der Küchenjunge und die Prinzessin nicht im großen königlichen Garten getroffen hätten.

Das verdross die königlichen Räte, und so lagen sie dem alten König in den Ohren, er solle den Küchenjungen fortjagen lassen. Allein, die Prinzessin brach in Tränen aus, sobald sie ihn nur anrühren wollten, denn sie hatte ihn sehr lieb.

„Ei was“, dachte der König, „sie sind ja noch Kinder. Mit der Zeit werden sie schon zu Verstand kommen.“

Und so blieb alles wie es war, die Kinder spielten miteinander, und niemand durfte sie hindern. Allmählich aber hörten sie auf, Kinder zu sein. Ihre Freundschaft dauerte jedoch fort und wurde von Tag zu Tag inniger und fester. Da die Prinzessin nun schon alt genug war, um zu heiraten, kamen von allen Enden der Welt Königssöhne herbeigereist, um sie zu werben. Der königliche Palast erscholl von Musik und Becherklang, Wein und köstliche Speisen gab es in Hülle und Fülle. Die Prinzessin konnte zehn Königssöhne für einen haben, allein, ihr gefiel nur der Küchenjunge, und keinen anderen wollte sie zum Gemahl nehmen.

Der alte König ärgerte das gewaltig. So viele Königssöhne und ein Küchenjunge! Er berief seine Räte, was er tun solle. Einer riet sogleich, man solle den Küchenjungen in den Kerker werfen, ein anderer, man solle ihn umbringen lassen. Das schien den guten König aber unrecht. Endlich sprach der weiseste der Räte: „Erlauchter König, so schickt den Küchenjungen auf eine Reise, von der er in hundert Jahren nicht wiederkehren kann. Schickt ihn zur Sonne, damit er sie frage, warum sie am Vormittag immer höher steigt und alles mehr und mehr erwärmt, am Nachmittag aber hernieder sinkt und ihre Wärme immer schwächer wird.“

Dieser weise Rat gefiel dem König. „Wenn meine Tochter ihn so lange nicht sieht“, dachte er, „dann wird sie ihn vergessen.“

Und so wurde der Küchenjunge sogleich gerufen und auf die Reise zur Sonne geschickt. Mit Tränen schied die Königstochter von ihrem Freund, mit schwerem Herzen begab er sich auf den Weg. Niemand wusste ihm Rat zu erteilen, niemand wusste ihm zu sagen, welchen Weg er nehmen solle. Sein Verstand sagte ihm aber, dass er der Sonne nachgehen müsse, gerade dorthin, wo sie niedersinkt.

Er wanderte durch öde Wälder, auf unwegsamen Pfaden, bis er endlich in ein fremdes Land kam, wo ein mächtiger, aber blinder König herrschte. Als dieser erfuhr, woher er komme und wohin er gehe, ließ er ihn sogleich vor seinen goldenen Thron rufen. Der König bedurfte nämlich eines guten Rates, welchen ihm niemand anders als die Sonne selbst erteilen konnte. „Du gehst zur Sonne, mein Sohn?“ fragte er.

„So ist es in der Tat.“

„Nun, wenn du hingelangst, dann frage die Sonne doch, warum ich, ein so mächtiger König, auf meine alten Tage erblindet bin. Wenn du mir die Antwort auf diese Frage bringst, so schenke ich dir die Hälfte meines Königreiches.“ Der Küchenjunge versprachs  und zog weiter der Sonne nach, über Berg und Tal, wo kein Laut zu hören und kein Haus zu sehen war, bis er zum weiten Meer kam. Das Meer war endlos weit und tief, und die Sonne versank gerade darin. Was sollte er nun tun? Wie er so darüber nachsann, kam auf einmal ein großer Fisch ans Ufer geschwommen. Er ragte halb aus dem Wasser, und sein Rücken funkelte wie glühende Kohle, das rührte vom Glanz der Sonne her. „Wohin gehst du?“ fragte der Fisch.

„Ich möchte zur Sonne, denn ich muss sie etwas fragen. Aber ich weiß nicht, wie ich zu ihr gelangen kann.“

„Ich will dich zur Sonne hinübertragen, wenn du sie fragst, woher es kommt, dass ich, ein so großer Fisch, nicht hinunter zum Meeresgrund schwimmen kann, wie all die anderen Fische.“

„Das will ich sie gerne fragen“, antwortete der Küchenjunge, und schon saß er auf dem Rücken des Fisches, der bis ans andere Ufer hinübertrug.

„Hier will ich auf dich warten“, sagte der Fisch, und der Junge wanderte weiter durch fremde und wüste Gegenden, wo es weder Weg noch Steg, wo es keinen Vogel und noch weniger eine Menschenseele gab. Er war nun nicht mehr weit vom Ende der Welt, da sah er die Sonne ganz nah vor sich zur Erde sinken. Er eilte sich so sehr er konnte, und als er endlich hingelangt war, da ruhte der Sonnenball im Schoß seiner Mutter aus. Der Junge verneigte sich und sprach: „Mein lieber strahlender Sonnenball, so sagt mir doch, weshalb steigt ihr am Vormittag höher und höher am Himmelszelt und erwärmt die Erde immer mehr, am Nachmittag aber sinkt ihr hernieder, und eure Wärme wird schwächer und schwächer?“

„Ei, mein Lieber“, antwortete der Sonnenball, „frage doch deinen Herrn, warum er, nachdem ihn seine Mutter geboren hat, wächst an Leib und Kraft, im Alter sich aber zur Erde neigt und immer schwächer wird. Auch mit mir verhält es sich so. Meine Mutter bringt mich jeden Morgen aufs Neue als einen schönen Knaben zur Welt, jeden Abend aber begräbt sie mich als einen schwachen Greis.“

„So sagt mir doch, liebe Sonne“, fragte der Küchenjunge weiter, „warum ist jener mächtige König im Alter erblindet, da er doch früher so gut sah?“

„Ha, warum er erblindet ist? Weil er stolz wurde, weil er sich Gott gleichstellen wollte und sich einen sternenübersäten Himmel aus Glas erbauen ließ. Wenn er sich vor Gott demütigt und den gläsernen Sternenhimmel zertrümmern lässt, wird er sein Augenlicht wieder erhalten.“

„Und warum, liebe Sonne, kann jener große Fisch nicht, wie all die anderen, auf den Meeresgrund gelangen?“

„Weil er noch kein Menschenfleisch gefressen hat“, sprach die Sonne. „Doch sag ihm das erst, wenn er dich ans andere Ufer gebracht hat und du ein gutes Stück Wegs gelaufen bist, sonst wird er dich auffressen.“

Der Küchenjunge bedankte sich bei dem Sonnenball, und dieser schenkte ihm zum Abschied eine Nussschale, in der sich ein goldenes Sonnengewand befand. Nun wanderte der Junge zurück zum Meer, der Fisch nahm ihn auf den Rücken und durchschwamm mit ihm die Wellen. Mitten auf dem Meer drohte der Fisch den Jungen ins Wasser zu werfen, wenn er nicht sogleich die Antwort der Sonne sage. Dieser wollte aber die Antwort erst dann sagen,

wenn sie am anderen Ufer angelangt wären. Am anderen Ufer begann er wegzulaufen und rief dem Fisch das Geheimnis erst aus einiger Entfernung zu. Da geriet der Fisch so sehr in Wut, als wäre der Satan selber in ihn gefahren. Er peitschte das Wasser mit seinem Schwanz,  dass es weit über das Meeresufer hinaustrat und dem Jüngling schon bis zum Gürtel reichte. Doch es war zu spät, der Fisch konnte ihm dennoch nichts mehr anhaben.

„Hat mich dieser Teufel jetzt nicht bekommen, dann bekommt er mich nimmermehr“, dachte der Jüngling und zog fröhlich weiter, immer der Sonne entgegen, um den Weg nicht zu verfehlen. Nachdem er lange, lange gewandert war, gelangte er zu dem blinden König.

„Hast Du erfahren, warum ich erblindet bin?“ fragte dieser.

„Ihr seid erblindet, weil ihr stolz wurdet und euch Gott gleichstellen wolltet. Wenn ihr euren gläsernen Himmel zertrümmert und euch vor Gott im Staube demütigt, dann werdet ihr euer Augenlicht wieder erhalten.“

Das tat der König, und sogleich sah er so hell, als ob er aus dem Grabe ins Sonnenlicht getreten wäre. Der König freute sich über alle Maßen und schenkte dem Jüngling die Hälfte seines Königreiches. Nun war der Küchenjunge ein König! Er säumte keinen Augenblick und eilte nach Hause, und dran tat er wohl. Er war nämlich kaum angelangt, da wurden die Glocken geläutet und die Kirchentüren angelweit geöffnet.

„Was trägt sich hier zu?“ fragte er die Leute.

„Die Königstochter heiratet, eben werden die Glocken zur Trauung geläutet.“

Da zog er aus seinem Reisebündel die Nussschale, nahm daraus das goldene Sonnengewand, legte es an und setzte sich in die erste Bank am Altare. Nach einer Weile kamen im langen Zug die Hochzeitsgäste. Jeder blickte verwundert den reichen Gast im goldenen Gewand an, und einer fragte flüsternd den anderen, wer das sei. Als die junge Braut kam, musste sie nicht fragen, wer das sei, sie flog sogleich auf ihren Liebsten zu und war nicht mehr von ihm zu trennen.

Als der alte König vernommen hatte, was in der Kirche geschehen war, ließ er den Jüngling in seinem Sonnengewand vor den Thron kommen, und dieser erzählte von Anfang bis zum Ende, wie es ihm auf seiner langen reise ergangen war. Dann nahm er die Prinzessin, die ihn jetzt noch lieber hatte als zuvor, bei der Hand, und sie schritten zum Altar. Nach dem Tode des alten Königs herrschten sie gütig und gerecht im Reiche und waren glücklich miteinander, solange sie lebten.

 

 

 

 

 

 

 

Die Spinnerin im Mond

(Sachsen)

 

 

 

In einem Dorf lebte einmal ein altes, armes Weiblein, das hatte eine einzige Tochter, die hieß Marie, und das war ein sehr geschickte Kind und half der Mutter leicht über die Armut hinweg. Marie konnte täglich beinahe zwei Zahlen Garn spinnen, und ihr Faden war unvergleichlich gleich und fein. Aber so fleißig die Marie auch war, so lebensfroh war sie und in der Spinnenkoppel stets die Lustigste, zumal wenn die Rädlein beiseite gesetzt wurden und der Tanz anging, der spät genug aufhörte.

Der Mutter war das gar nicht lieb, dass das Töchterlein zum öfteren bis nach Mitternacht umhertollte und ihre Ermahnungen sich so wenig zu Herzen nahm. Nun war wieder fast ein Winter fast zu Ende, und Marie war der Fleiß selbst gewesen, und es kam der Abend von Mariä Lichtmeß, wo noch einmal  Spinnekoppel sein sollte, den Winter zu beschließen, denn: „Lichtmeß muss man die Wurst bei Tag ess“, so lautet das Sprichwort. Die Mutter sprach zur Tochter, als diese ihr Rädchen aufnahm, um fort zu gehen: „Liebes Kind, heute ist ein Marientag, heute darf kein Kind ungehorsam gegen die Eltern sein, sonst straft es der Himmel sogleich. Darum versprich mir, dass du heute nicht wieder bis nach Mitternacht ausbleibst, sondern vor Mitternacht heimkommst, und dass du heute nicht zum Tanze gehst, ich verlasse mich darauf.“

Marie versprach mit nassen Augen, was ihre Mutter verlangte, und nahm ihr Rad und ging. Es wurde sehr fleißig gesponnen, aber nun kamen die jungen Burschen, die hatten im Wirtshaus ein paar Prager Musikanten gefunden, das war etwas Neues, die mussten mit, und nun ging das Tanzen los.

Marie wollte fort, wollte der alten Mutter Wort halten, allein die Burschen und die Mädchen ließen sie nicht fort, sie musste mit an den Reigen, die Spielleute pfiffen und fiedelten auch gar zu schön. Und als die Marie einmal im  Tanzen war, da ging sie nicht mehr davon, da konnte die Alte lange warten, denn Tanzen war Mariens Wonne und ihr Glück. Und da ging die Mitternachtsstunde vorüber, ehe sie es nur dachte, und als der lustige Kreis das Haus verließ, wurden die Mädchen mit Musik nach Hause gebracht und bekamen schöne Ständchen, das hallte lieblich durch die helle Mondnacht und die tiefe Stille.

Da kamen sie auch am Kirchhof vorbei, dessen Tor offen stand, und stand eine alte Linde darauf, darunter war ein freier, ebener Raum, und da hinein gingen die Tänzer und die Spielleute und begannen von neuem mit dem Tanz. Erst schauerten und scheuten die Mädchen, dann folgten sie doch, halb gezwungen, und endlich auch Marie.

Die alte Mutter aber wartete daheim und weinte über ihr Kind, und da sie von weitem den Freudenschall hörte, dachte sie gleich, dabei werde die Marie nicht fehlen, und machte sich auf und kroch aus dem Häuschen, ihr Kind zu holen. Da sah sie nun zu ihrem Schreck und Zorn ihre Marie unter den Kirchhofspringern und rief ihr zu mit strengem Gebot, sogleich nach Hause zu folgen.

Aber die Maid rief: „Ei, Mutter, der Mond scheint ja noch so hell und schön! Geh nur heim, ich komme bald!“

Da hob die Alte ihre beiden dürren Hände zum Himmel auf und schüttelte ihre grauen Haare, die ihr wild um das Haupt hingen, und schrie im wilden Grimme: „Ei, dass du Rabenkind im hellen Monde säßest fort und fort und hättest immer und ewig deine verfluchte Spinnekoppel droben oder beim Teufel und seiner Großmutter!“ Und wie die Alte diesen Fluch gesprochen, schlug sie hin, und war tot.

Marie aber hatte nicht Zeit zum Jammern und Klagen, samt ihrem Rädchen wurde sie schnell entrückt hinauf in den Mond. Da sitzt sie, da sinnt sie, da spinnt sie. Wenn der Mond recht hell scheint, kann man sie deutlich sehen, und all ihr wunderzartes überfeines Gespinst, das streut sie vom Mond herab. Zum Frühlingsbeginn, wenn die Spinnekoppeln enden, und im Herbst, wenn sie beginnen und die Abende länger werden, da führt es der Wind an hellen Tagen dahin und dorthin und schwimmt weiß durch die Luft und zieht regenbogenfarbig glänzend von Strauch zu Strauch, von Blume zu Blume, und die Leute nennen es Marienfäden, Marienseide, fliegender Sommer.

 

 

 

 

 

 

 

Vom Hasen und dem Elefantenkönig

(Deutschland)

 

 

 

Es kamen einmal alle Geschlechter der Vögel zusammen, gemeinsam einen neuen König zu küren, denn ihr bisheriger König war gestorben, und sie waren bereits unter sich einig, den Aar zum König zu wählen. Schon sollte die Wahl erfolgen und bestätigt werden, da sah die Versammlung von weitem den Raben geflogen kommen, der sich verspätete hatte, und da sprachen einige der Versammelten: “Es ist gut, dass der Rabe auch kommt, auf dass wir seinen Rat ebenfalls vernehmen“, und als der Rabe sich niederließ, sprachen sie zu ihm: „Es ist recht, dass du kommst, dein Stimmrecht auszuüben, wie jeder von uns befugt und berufen ist. Gerne hören wir Deine Meinung, doch sind die meisten Stimmen für den Adler als unsern künftigen König.“

Darauf antwortete der Rabe: „Wenn über die Wahl bereits entschieden ist, so bleibe ich in der Minderheit und bin von vornherein überstimmt, aber dennoch gebe ich mein Nein zu diesem euern Beschluss. Und selbst wenn es keine edlen Geschlechter unter uns Vögeln mehr gäbe, keine Königsgeier, Edelfalken, Reiher und heilige Ibisse, Schwäne und Paradiesvögel, sondern nur Tauben, Spatzen, Nachteulen und Rohrdommeln und dergleichen, so würde ich dennoch nicht für den Adler als unser gemeinschaftliches Oberhaupt stimmen, denn er wird von bösen Sitten beherrscht. Seine Farbe ist ein unentschiedenes geflecktes und getigertes Braun, seine Zunge trägt er verkehrt im Schnabel, schöne Reden zu halten, wie wir weise Raben, vermag er gar nicht, und doch kommt so unendlich viel darauf an, dass ein Herrscher gut zu sprechen und Reden zu halten weiß. Der Adler ist ein halber Tor – in seinem ganzen Wesen und Gebaren ist kein Adel, nicht das, was wir noble Haltung nennen. Vernunft besitzt er gar keine, desto mehr Grimm und Grausamkeit, jähen Zorn und gnadenlose, unbarmherzige Tyrannei. Sein ganzes Geschlecht ist von jeher übel berühmt, hat stets auf Schlimmes gesonnen und ist arglistigen, tückischen Herzens auf anderer Schaden bedacht gewesen, ist so voll Bosheit, dass ich es gar nicht auszusprechen vermag. Darum sage ich euch, wählt keinen Adler zu unserm König, sucht euch einen andern, wenn er auch vielleicht minder klug und scharfsichtig ist, edle Einfalt der Gemütsart ist besser als behände allüberlistende Klugheit. Denn wenn ein König weise Minister hat und fromme Räte und Beisassen, so wird sein Reich wohl bestehen, wie wir ein Beispiel haben an dem König der Hasen.  Dieser war nicht besonders klug und weise, aber er folgte weisen Ratschlägen, und das kam im zugute.“

Auf diese Rede fragten alle Vögel, welche so aufmerksam zuhörten, wie du jetzt mir, was denn der Hasenkönig getan und vorgehabt, worauf der Rabe antwortete: „Es war einmal ein überteures Jahr und dabei so trocken, dass die Früchte des Landes verdorrten und alle Quellbrunnen versiegten. Das fiel allen Tieren zu ertragen sehr schwer, am schwersten aber den Elefanten. Diese taten zusammen und klagten ihrem König ihre große Not und sprachen: „Uns gebricht es täglich mehr an Wasser und Weide. Wäre es dir genehm, so wollten wir Boten aussenden, eine andere Wohnstätte zu suchen, dass wir unser Leben erhalten.“

„Ich habe nichts dagegen, tut nach eurem Rat und Gefallen!“ antwortete der Elefantenkönig. Darauf ernannten die Elefanten einen Ausschuss und schickten dessen Mitglieder aus, umherzuspähen und zu suchen, wo sich ein besserer wasserreicher- und Weideplatz böte. Dabei gelangten einige in das Königreich der Hasen. Das war ein lustiger Ort mit einem Brunnen, welcher dem Mond heilig war, wie denn auch die Hasen dem Mond heilig waren seit alters her. Dort rings um den Brunnen waren die unterirdischen Höhlen der Hasen. Den ausgesandten Spähern gefielen Ort und Gelegenheit gar sehr, sie kehrten heim und erstatteten Bericht über den neuen Wohnsitz. Von den Hasen hatten sie nichts wahrgenommen, denn der Kleine fürchtet den Großen, und die Weisen behaupten, es sei für die Kleinen nicht gut Kirschen essen mit den Mächtigen.

Als die gute Botschaft hin brach das Elefantenvolk samt seinem König auf und zertrampelte den armen Hasen Wohnungen, Höhlen und Ansitze in Grund und Boden samt einen Teil des zaghaften Völkchens.

Da war des Jammerns kein Ende, und die Hasen liefen haufenweise zu ihrem König und klagten ihm ihr Leid und wollten Rat und Hilfe von ihm. Aber da war guter Rat teuer und Hilfe kam, denn was vermag das schwache Häschen gegen den mächtigen Elefanten? Der Hasenkönig aber berief dennoch seine Räte und sprach zu ihnen: „Ich fühle wohl, dass ich nicht weise genug bin, meinem zertretenen Reiche zu helfen, darum ratet ihr, was uns zu tun ziemt, der gesamten Hasenheit zu Nutz und Frommen.“

Da sprach ein alter Hase, welcher weise und gelehrt war und in großer Ahnung stand: „Wenn es dir gefällt, so sende mich, mein König, und noch einen deiner Getreuen zum König der Elefanten.“

Der König erwiderte auf diese Rede: „Mir scheint, dass du treu und weise bist, und ich vertraue dir ohne allen Argwohn ganz allein. Vollziehe die Gesandtschaft und melde, was du erreicht hast. Sage auch dem König der Elefanten meinen Gruß und außerdem in meinem Namen alles, was dir gut scheint, denn ein Botschafter muss von selbst wissen, wie er sich zu verhalten hat.“

Hierauf machte sich der alte Hase in einer hellen Vollmondnacht auf und ging zum Mondbrunnen, doch überlegte er mit Vorsicht, dass er von zarter Körperbeschaffenheit war, und dachte an das alte Sprichwort: „Wer sich mutwillig in Gefahr bringt, der kommt darin um, und wer unter die wilden Tiere geht, den fressen sie auf!“ Ich will diesen Berg besteigen und mit dem Elefantenkönig Zwiesprache pflegen.

Der alte Hase tat, wie er gesagt, und kam vor den Elefantenkönig und sagte zu ihm: „An dich, großmächtigster Herr und König, sendet mich der Mond, mein nachtbeherrschender Gebieter. Höre seine Botschaft durch mich an in deiner Weisheit und lass mich nicht etwa Missfälliges entgelten, denn ein Abgesandter ist nur ein Werkzeug.“

Der Elefantenkönig sprach: „Sage mir, was es ist, das der Mond wünscht und gebietet?“

Der alte Hase erwiderte: „Also entbietet dir durch meinen Mund der Mond: „Der Mächtige, der seiner Macht vertraut, lässt sich leicht durch diese bewegen zu streiten gegen den, der noch mächtiger und stärker ist, und sein Kampfgelüst wird ihm leicht zu einem Strick um seine Füße. Du, o König, lässt es dir damit nicht genügen, dass du der Mächtigste und Größte bist unter allen Tieren, nein,

du hast deinen Zug unternommen gegen mein armes Volk, das Volk der Hasen, hast mit den Deinen ihrer und ihrer unschuldigen Kindlein Weide zertreten, und meinen und ihren Brunnen. Tue dies nicht mehr! Hebe dich mit den Deinen von dannen, oder ich will eure Augen trübe machen  - spricht der Mond – und euch fortbringen mit meinem grimmigen Zorn. Und wenn du, o König, meinen Worten nicht glaubst, so soll ich dir des Mondes zornvolles Antlitz zeigen.“

Da erschrak der Elefantenkönig und ging mit dem Hasen zu dem Mondbrunnen, und der Hase ließ ihn in das Wasser sehen und sagte: „Schmecke mit deiner langen Nase hinab, so schmeckst du den Mond.“ Da stieß der Elefant seinen Rüssel in den Mondbrunnen, und da bewegte sich alsbald das Wasser, und das widerspiegelte klare Antlitz des Mondes verzerrte sich.

„Siehst du, o mächtiger König“, rief der Hase, „wie grimmig der Mond dich anschaut und seinen ganzen Zorn dir verkündet durch seine Mienen über das Arge, das du ihm und seinem Volke getan!“

Darauf sprach der Elefantenkönig: „O Herr, der Mond! Nimmermehr will ich wider dich und die Deinen sein! Gern wollen wir weichen von deinem Heiligtum.“ Und er zog ab mit den Seinen, weit weg vom Mondbrunnen, und die Hasen nahmen wieder Besitz und bauten ihre Wohnungen aufs neue und wohnen noch heute in Frieden an diesem Ort.“

 

 

 

 

 

 

 

Warum des Menschen Fußsohle nicht eben ist

(Serbien)

 

 

 

Als die Teufel von Gott abgefallen waren und sich auf die Erde geflüchtet hatten, hatten sie auch die Sonne mit sich genommen, und der Kaiser der Teufel hatte sie auf eine Lanze gesteckt und trug sie stets über der Schulter. Als nun aber die Erde sich bei Gott beklagte, dass sie von der Sonne bald ganz verbrannt werden würde, da schickte Gott den heiligen Erzengel Michael, der dem Teufel auf irgendeine Art die Sonne wegnehmen sollte. Und als Michael zur Erde niederstieg, befreundete er sich bald mit dem Kaiser der Teufel, der aber merkte gleich, wo das hinzielte, und war auf der Hut.

Als beide einst miteinander auf der Erde spazieren gingen, da kamen sie auch ans Meer. Sie wollten darin baden, und der Teufel stieß die Lanze mit der Sonne in die Erde. Nachdem sie ein wenig gebadet hatten, sprach der Erzengel Michael: „Nun lass uns tauchen und sehen, wer von uns beiden tiefer hinunter kommt.“

Und der Teufel antwortete: „Nun, wohlan!“

Da tauchte der heilige Erzengel Michael und brachte in seinem Mund Meersand herauf. Nun sollte der Teufel tauchen, der fürchtete aber, dass ihm Michael unterdessen die Sonne entwenden werde. Da spuckte er auf die Erde, und aus seinem Speichel entstand eine Elster, die ihm die Sonne hüten sollte, bis er getaucht und aus der Tiefe Meersand heraufgeholt hätte.

Sobald aber der Teufel untergetaucht war, machte der heilige Michael mit der Hand das Zeichen des Kreuzes, und alsbald war das ganze Meer von neun Ellen dickem Eis  bedeckt. Hierauf ergriff er schnell die Lanze mit der Sonne und flüchtete damit in den Himmel.

Doch da krächzte die Elster aus Leibeskräften. Wie der Teufel das Gekrächze der Elster vernahm, ahnte er auch schon, was es gab, und kehrte so schnell wie möglich um. Aber als er in die Höhe kam, fand er das Meer zugefroren und sah, dass er nicht heraus konnte. Da kehrte er eilends noch einmal zurück auf den Meeresgrund, holte einen Stein, brach damit das Eis durch und setzte nun dem Erzengel Michael nach. Jener floh, und der Teufel jagte immer hinter ihm drein. Schon hatte der Erzengel Michael mit einem Fuß den Himmel betreten, da erwischte ihn der Teufel am anderen Fuß und riss ihm mit seinen Klauen aus der Sohle ein Stück heraus. Und als nun der Erzengel Michael so verwundet mit der Sonne vor Gott den Herrn trat, weinte er und klagte: „Was soll ich nun, o Herr, so verunstaltet?“

Da sprach Gott zu ihm: „Sei ruhig und fürchte dich nicht! Ich werde es anordnen, dass von nun an alle Menschen gleich dir eine kleine Vertiefung in der Fußsohle haben.“

Und so wie Gott es anordnete, entstand auch bei allen Menschen auf den Sohlen beider Füße eine kleine Vertiefung, und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag.

 

 

 

 

 

 

 

Wie die Milchstraße an den Himmel kam

(Estland)

 

 

 

Bei der Schöpfung bekam Ilmanütar, die Tochter der Witterung, den Auftrag, für die Vögel zu sorgen und sie zu schützen. Sie empfing im Frühling die heimkehrenden Vögel und stärkte und fütterte sie, wenn sie auf ihrem Flug nach Norden ausruhten. Wenn der Herbst nahte, sammelte sie wieder die Zugvögel und wies ihnen den Weg nach Süden. Ilmatütar war die schönste der Himmelstöchter. Der Ruf ihrer Schönheit ging über den ganzen Himmel, und so wollten die Gestirne selbst um sie freien,

Da kam der Abendstern zu ihr und begehrte sie zur Frau. Doch sie wies ihn ab und sprach: „Du bist nicht dein eigener Herr, du bist nur der Begleiter der Sonne. Jemand wie du taugt nicht zu meinem Gemahl.“

Als eine kurze Zeit vorübergegangen war, fuhr der Polarstern in einer prächtigen Kutsche, gezogen von sieben blanken Falben, vor und brachte sieben Geschenke für Ilmatütar mit. Doch sie nahm die Geschenke nicht an und sprach: „Ich will dich nicht zum Manne. Du musst immer auf deinem dir vorgeschriebenen Platz bleiben und darfst dich nicht fortrühren. Solch ein Leben würde mir nicht gefallen.“

Nicht lange darauf kam der Mond in einem silbernen Wagen, gezogen von zwölf herrlichen Schimmeln, vorgefahren. Er brachte zwölf reiche Geschenke mit, doch Ilmatütar wies auch den Mond und seine Geschenke an und sprach „Lieber Mond, du taugst nicht zum Ehemann. Du bist allzu veränderlich, auf dich ist kein Verlass.“

Kurze Zeit später kam eine goldene Kutsche, bespannt mit vierundzwanzig Goldfüchsen, gefahren. Darin saß der Sonnenjüngling mit vierundzwanzig Brautgeschenken für Ilmatütar. Doch sie wies auch den Sonnenjüngling ab: „Auch deine Frau will ich nicht werden. Tag für Tag musst du die gleiche Himmelsstraße entlang ziehen.“

Nun verging einige Zeit, da fuhr eines Tages ein diamantener Wagen vor, mit tausend Pferden bespannt, und darin saß der Herr des Nordlichts und strahlte so hell, dass es die Augen blendete. Seine Diener aber sprangen vom Wagen und brachten Ilmatütar unzählige kostbare Geschenke: Gold, Silber und Diamanten.

Ilmatütar empfing den Freier, verneigte sich und sprach: „Du bist dein eigener Herr, du ziehst über die Himmel, wenn es dir recht ist, und ruhst dich aus, wenn es dir gefällt. Du erscheinst immer wieder in neuen Kleidern und immer anderen Gefährten. Du bist der richtige Gemahl für mich!“ Sie feierten zusammen das Fest der Verlobung und waren sehr glücklich miteinander. Doch nach Mitternacht machte sich der Herr des Nordlichts auf den Weg, und er sprach zu seiner Braut: „Bald komme ich wieder und schmücke dich mit meinen Geschenken und bereite alles zur Hochzeit vor.“ Dann fuhr er mit seinem strahlenden Wagen davon, und Ilmatütar bereitete das Hochzeitsfest vor, Sie schmückte sich mit dem Geschmeide und legte den Brautschleier an. Sie wartete und wartete, Tage und Nächte vergingen, doch ihr Verlobter kam nicht wieder. Sie wurde traurig und weinte vor Kummer und Enttäuschung. Der Winter ging vorüber und es wurde Frühling, und nun bestand keine Hoffnung mehr, dass der Herr des Nordlichts mit seinem glänzenden Wagen und seinen blitzenden Rossen über dem Himmel dahergejagt kommen würde.

Inmitten blühender Blumen saß Ilmatütar in ihrem Brautschmuck, doch vor Kummer und Tränen sah sie nichts von der Pracht des Frühlings. In ihrem Kummer vergaß sie auch, für die Vögel, die aus dem Süden herbei gezogen kamen, zu sorgen. Sie brachte ihnen keine Nahrung und wies ihnen nicht den Weg. Da flatterten diese hilflos umher, und einige flogen zu Altvater, dem Schöpfer, und klagten  ihm ihre Not.

Da zeigte Altvater Erbarmen mit den Vögeln und mit Ilmatütar. Er sandte seine Boten, die Winde, zur Erde hinab. Diese hoben die weinende Ilmatütar behutsam von der Wiese auf, trugen sie empor und betteten sie auf das Himmelsgewölbe. Damit sie aber nicht zur Erde zurückfalle, heftete Altvater ihren Brautschleier mit den unzähligen Diamanten, mit denen sie geschmückt war, am Himmelsbogen fest.

Der Schleier ist heute noch zu sehen und wird die Milchstraße genannt. Ilmatütar bemerkte, dass sich um sie herum etwas verändert hatte. Staunend blickte sie  um sich. Ihr Herz wurde getröstet, und sie begann, aufs neue für ihre Schützlinge zu sorgen. Bis zum heutigen Tag leitet sie in Frühlings- und Herbstnächten die Züge der Wandervögel, wenn sie unter ihrem Schleier dahin ziehen. Doch wenn der Winter kommt, ist ihre Freudenzeit. Da geschieht es immer wieder, dass der Herr des Nordlichts mit seinen blitzenden Rossen über das Himmelsgewölbe gejagt kommt und Ilmatütar besucht. Dann feiern die Liebenden ihr Wiedersehen und erneuern ihren Treueschwur. Doch heiraten können sie nicht, denn die Braut ist mit ihrem Schleier durch die Edelsteine am nachtblauen Himmel festgesteckt. Der durchsichtige Schleier weht von einem Himmelsende zum anderen, und die Diamanten, die der Herr des Nordlichts seiner Braut geschenkt hat, funkeln als leuchtende

Sterne darin.

 

 

 

 

 

 




 







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